von Rechtsanwalt Prof. Dr. Dieter Leuze, Essen

Anmerkungen zur vorläufigen Festnahme eines Strafverteidigers in der laufenden Verhandlung*

A. Ausgangspunkt

In der Presse "Westfälischer Anzeiger" vom 20. Juni 2012 findet sich folgender Beitrag

"Ziehen Sie Ihre Robe aus!"

Verteidiger im Gerichtssaal festgenommen

Münster: Rechtsanwalt in Handschellen: Mitten im Gerichtssaal ist der Pflichtverteidiger eines Angeklagten bei einem Steuerprozess in Münster festgenommen worden. Der Rechtsanwalt soll einem Zeugen nach dem letzten Verhandlungstag € 50.000,00 für eine Falschaussage angeboten haben. Der Zeuge hat sich daraufhin an die Staatsanwaltschaft gewandt. "Es besteht der dringende Verdacht der versuchten Anstiftung zur Falschaussage" sagte Oberstaatsanwalt Rainer Neuschmelting. Die Verhandlung lief gestern bereits, als sich der Staatsanwalt plötzlich an den Rechtsanwalt wandte und sagte: "Ich nehme Sie vorläufig fest. Ziehen Sie bitte Ihre Robe aus!". Außerdem musste der Anwalt sein Mobiltelefon abgeben. Seine im Zuschauerraum anwesende Ehefrau musste zusehen, wie Wachtmeister ihren Mann in Handschellen abführten. Er wurde vom Gericht umgehend entpflichtet und durch einen anderen Verteidiger ersetzt. In dem Prozess geht es um den Vorwurf illegaler Machenschaften auf einem Schrottplatz in Münster. Drei Angeklagten werden umfangreiche Schwarzgeldgeschäfte vorgeworfen. Der Steuerschaden soll in die Millionen gehen." dpa

Die Rechtsanwaltskammer Hamm hat durch ihren Präsidenten mitgeteilt, dass der Vorstand der Rechtsanwaltskammer Hamm in seiner Sitzung vom 22. Juni 2012 mit dem Vorgang befasst war und einstimmig die nachfolgende Resolution beschlossen hat:

"In Nr. 4a der für die Staatsanwaltschaft verbindlichen "Richtlinien für das Strafverfahren und das Bußgeldverfahren" heißt es: Der Staatsanwalt vermeidet alles, was zu einer nicht durch den Zweck des Ermittlungsverfahrens bedingten Bloßstellung des Beschuldigten führen kann.

Damit ist das Vorgehen der Staatsanwaltschaft im Verlauf der Hauptverhandlung vom 19. Juni 2012 vor dem Landgericht Münster nicht vereinbar. Dies hätte vermieden werden können und müssen. Der Vorstand der Rechtsanwaltskammer Hamm unterstützt deshalb nachdrücklich die Erklärung des Anwaltsverein Münster, wonach es sich hier um einen gezielten Angriff auf das Ansehen der Anwaltschaft handelt."

Die von der Rechtsanwaltskammer Hamm erwähnten Richtlinien vom 1. Juni 1977 beruhen auf einer Vereinbarung des Bundesministers für Justiz und der Landesjustizminister. Sie verfolgen das Ziel, "eine einheitliche Verfahrenshandhabung im Bund und in allen Bundesländern zu gewährleisten".[1] Die Richtlinien werden als "Verwaltungsanordnungen ohne Gesetzeskraft" bezeichnet.[2] Bei den Richtlinien handelt es sich um Verwaltungsvorschriften, die ihre Rechtswirkungen im staatlichen Binnenbereich entfalten. Wie Maurer[3] zutreffend ausführt,  wenden sich die Verwaltungsvorschriften an die nachgeordneten Behörden und Bediensteten und regeln deren Verhalten. Als verwaltungsinterne Regelungen beziehen sich die Verwaltungsvorschriften nicht auf die Bürger, denen sie weder Rechte einräumen noch Pflichten auferlegen können. Die angesprochenen Organwalter allerdings haben „kraft ihrer dienstrechtlichen Gehorsamspflicht die Verwaltungsvorschriften zu beachten und anzuwenden". Im Hinblick auf die Unabhängigkeit der Richter ist "Adressat der Richtlinien in erster Linie der einzelne Staatsanwalt".

Nach § 146 GVG haben die Beamten der Staatsanwaltschaft den dienstlichen Anweisungen ihres Vorgesetzten nachzukommen. § 4a der Richtlinien, der dem einzelnen Staatsanwalt die Bloßstellung des Beschuldigten untersagt, konkretisiert § 4 der Richtlinien, der in allgemeiner Form den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit festschreibt. Zwar wurden und werden gegen die Weisungsabhängigkeit der Staatsanwälte immer wieder Bedenken vorgebracht. Vor allem die Bundesanwälte Schmidt und Schoreit (Schoreit a. D.) können sich nur schwer mit dem Weisungsrecht der Justizminister abfinden. Ihre Bemerkung, dass das Legalitätsprinzip des § 152

StPO "nicht bei allen Justizministern gut aufgehoben ist",[4] provoziert allerdings die Feststellung, dass auch nicht alle Staatsanwälte die ihnen obliegenden Pflichten verinnerlichen. Dennoch muss trotz des massiven Befremdens über die vorläufige Festnahme eines Verteidigers in der Hauptver­handlung geprüft werden, ob der Staatsanwalt einen Grund dafür hatte, sich derart rigoros über die Nr. 4a der Richtlinien hinwegzusetzen. Es ist zwar darauf hinzuweisen, dass trotz der Weisungsgebundenheit der Staatsanwälte die Rechtsprechung die Staatsanwaltschaft "ihrer Aufgabestellung nach als ein den Gerichten gleichgeordnetes, der rechtsprechenden Gewalt zugeordnetes, notwendiges Organ der Strafrechtspflege angesehen hat".[5] Gut arbeitende Staatsanwaltschaften sind also für eine funktionierende Strafrechtspflege unerlässlich. Deshalb ist trotz vordergründiger Empörung über diesen Vorgang sorgfältig zu prüfen, ob der Staatsanwalt einen sachlichen Grund für sein Vorgehen hatte oder ob er sich mehr an seinem Jagdfieber als an den einschlägigen Gesetzen orientiert hat.

B. Rechtliche Würdigung

  1. Vorläufige Festnahme nach § 183 Satz 2 GVG und nach

Vorschriften der StPO

Die vorläufige Festnahme gemäß § 183 Satz 2 GVG scheidet allein deshalb aus, weil dem Verteidiger keine in der Sitzung begangene Straftat vorgeworfen wurde. § 183 Satz 2 GVG kommt selbst dann nicht zur Anwendung, wenn eine Straftat lediglich in der Sitzung bekannt geworden ist.

Von den Normen, die in der StPO die vorläufige Festnahme regeln (§§ 127, 127a und 127b StPO) scheiden  §§ 127 Abs. 1, 127a und 127b StPO allein deshalb aus, weil sie, ebenso wie § 183 Satz 2 GVG, die vorläufige Festnahme eines auf  frischer Tat Betroffenen oder Verfolgten voraussetzen. Deshalb bleibt allein § 127 Abs. 2 StPO übrig, doch ist auch diese Norm nicht einschlägig. Der Verteidiger hatte einen festen Wohnsitz und einen Kanzleisitz. Zudem beherrscht der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit den gesamten § 127 StPO in besonderem  Maße.[6] Wäre dieses Prinzip berücksichtigt worden, hätte der Staatsanwalt feststellen müssen, dass es Mittel gegeben hätte, die ohne Bloßstellung des Verteidigers zu dem gewünschten Erfolg führen. Er hat aber mit seiner "öffentlichkeitswirksamen" Maßnahme die dadurch entstandene Prangerwirkung mindestens billigend in Kauf genommen. Daraus ergeben sich folgende Konsequenzen:

Höfling[7] stellt zutreffend fest, dass der Menschenwürdesatz des Art. 1 Abs. 2 GG auch "die Freiheit von Erniedrigung" gewährleistet. Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) verwendet in diesem Zusammenhang im Anschluss an bahnbrechende Untersuchungen von Dürig die Formel:

"Es widerspricht der menschlichen Würde, den Menschen zum bloßen Objekt im Staat zu machen."

Abgesehen von dem hier eindeutig vorliegenden Verstoß gegen Art. 1 Abs. 1 GG verletzt die Festnahme des Rechtsanwalts in der Verhandlung den Verteidiger auch in seinem allgemeinen Persönlichkeitsrecht  Wie  Kunig[8] ausführt, hat das BVerfG "richterrechtlich das partiell eigenständige, gleichsam "zwischen" Art. 2 Abs. 1 und Art. 1 Abs. 1 angesiedelte Grundrecht "Allgemeines Persönlichkeitsrecht" etabliert". Dabei ist zu beachten, dass, wie Kunig[9]  zutreffend betont, auch "das zivilrechtliche Persönlichkeitsrecht Ausdruck der sich aus dem grundrechtliehen Pendant ergebenden Schutzverpflichtung des Staates ist". Ein wichtiger Baustein des allgemeinen Persönlichkeitsrechts ist der Schutz der persönlichen Ehre. Diese hängt untrennbar mit der jedermann zukommenden Menschen- und Personenwürde zusammen.[10] Auch wenn in diesem Beitrag davon ausgegangen wird, dass es Anlass gab, den betroffenen Rechtsanwalt vorläufig festzunehmen, war mit dieser Aktion eine nicht mehr zu überbietende Bloßstellung des Festgenommenen verbunden. Wie der Vorstand der Rechtsanwaltskammer Hamm ausführt, ist das "ein gezielter Angriff auf das Ansehen der Anwaltschaft". Darüber hinaus ist die "öffentlichkeitswirksame" Maßnahme des Staatsanwalts geeignet, die wirtschaftliche Existenz des Betroffenen zu vernichten und seine persönliche Ehre dauerhaft zu beschädigen.

II. Berufsrechtliche Erwägungen und Amtshaftung

Auch einem Staatsanwalt muss, wenigstens in den Grundzügen, die BRAO bekannt sein. § 1 BRAO bezeichnet den Rechtsanwalt als ein unabhängiges Organ der Rechtspflege. Unter Berufung auf BVerfGE 34, 293 stellt Vossebürger[11] fest, dass der Strafverteidiger als Rechtsanwalt ein "der Staatsanwaltschaft und dem Gericht gleichgeordnetes Organ der Rechtspflege ist“. Dennoch gestattet § 176 GVG dem Vorsitzenden des Gerichts zur Aufrechterhaltung der Ordnung in der Sitzung nach h. M. Durchsuchungsanordnungen hinsichtlich aller Verfahrensbeteiligten und damit auch im Einzelfall „gegen Richter, Staatsanwälte und Rechtsanwälte“.[12] Mit seiner den Verteidiger entwürdigenden vorläufigen Festnahme in der Hauptverhandlung hat der Staatsanwalt aber – wie schon festgestellt – in Kauf genommen, dass die wirtschaftliche Existenz des Betroffenen vernichtet und seine Ehre dauerhaft beschädigt wird. Deshalb liegt die Prüfung eines Amtshaftungsanspruchs nach Art. 34 GG i. V. m. § 839 BGB sehr nahe. Voraussetzung dafür ist zunächst, dass der Amtswalter – hier der Staatsanwalt – eine Amtspflicht verletzt hat. Zu den Amtspflichten gehören Pflichten, „die dem Amtswalter im Innenverhältnis, z. B. Verwaltungsvorschriften oder Weisungen, gegenüber dem Staat als seinem Dienstherrn obliegen“.[13]  Gurlit[14]  konkretisiert diesen Gedanken mit dem treffenden Hinweis, dass auf den Schutz Dritter bezogene Verwaltungsvorschriften unmittelbare Außenwirkung haben. Schonendere Festnahmemöglichkeiten, die es durchaus gegeben hätte, wurden offenbar nicht einmal ansatzweise geprüft. Stattdessen kam es zu einer an mittelalterliche Verhältnisse erinnernden Repression. Die Voraussetzungen für eine erfolgreiche Amtshaftungsklage liegen deshalb in dem konkreten Fall vor. Die aus Nr. 4a der Richtlinien folgende Amtspflicht wurde grob missachtet. Das Verhalten des Staatsanwalts widerlegt auch schlagend die ohnehin unzutreffende Ansicht von Koch,[15]  dass „die Freiheit des Anwaltsberufs durch staatliche Eingriffe derzeit kaum gefährdet ist“.

C. Fazit

Es ist befremdlich, dass sich die zuständigen Aufsichtsbehörden bislang zu diesem Vorgang ausschweigen.** Da nicht davon auszugehen ist, dass die Generalstaatsanwaltschaft Hamm in diesen Vorgang einbezogen wurde, hat sie von der Staatsanwaltschaft Münster einen Bericht anzufordern, der die Gründe für das – gelinde gesagt – ungewöhnliche Vorgehen des in der Sitzung anwesenden Staatsanwalts detailliert darstellt und überdies auch Aufschluss darüber gibt, ob, und wenn ja, mit welchen Amtsträgern der Staatsanwaltschaft Münster dieses Vorgehen abgestimmt wurde. Die vorläufige Festnahme des Verteidigers in der Verhandlung muss aber auch mit dem Gericht abgestimmt worden sein. Wie erwähnt, trifft den Vorsitzenden nach § 176 GVG die Pflicht, die Ordnung in der Sitzung aufrecht zu erhalten. Essenzieller Teil dieser Pflicht ist die Wahrung von Stil und Würde im Gerichtssaal. Nach dem derzeitigen Stand ist nicht einmal ansatzweise zu erkennen, dass der Vorsitzende Richter dieser Pflicht genügt und den mit der vorläufigen Festnahme verbundenen Anschlag auf das Ansehen der Anwaltschaft abgewendet hat. Deshalb ist es erforderlich, dass der Präsident des OLG Hamm als die obere dienstaufsichts- führende Stelle ebenfalls einen Bericht anfordert. Schließlich sollte auch der NRW-Justizminister, der selbst Rechtsanwalt ist, realisieren, dass er „in oberster Instanz“[16] für die Dienstaufsicht über die Richter und die Staatsanwälte zuständig ist.

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* Erstveröffentlichung in der Verwaltungsrundschau 1/2013, 15 ff.

** Anmerkung der Redaktion
Eine Stellungnahme der Generalstaatsanwaltschaft Hamm liegt dem Vorstand der Rechtsanwaltskammer vor. Dies war dem Autor als er seinen Beitrag verfasste, allerdings nicht bekannt.

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[1] Karlsruher Kommentar zur StPO, 6. Aufl., 2008, S. 2750

[2] Vgl. Fn. 1.

[3] Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, 18. Aufl., 2011, § 24 Rn. 3 = S. 625; vgl. ferner Schwarz, in: Fehling/Kastner (Hrsg.), Verwaltungsrecht, 2. Aufl. 2010, § 114 VwGO Rn. 39.

[4] Vgl. Schmidt!Schoreit, in: Karlsruher Kommentar (Fn. 1), § 146 GVG Rn. 1 und Rn. 2;  für Beibehaltung - auch des externen - Weisungsrechts aber ohne  jede  Einschränkung  Kissei/Mayer,  Komm.  z.  GVG,  5. Aufl.,  2008, § 146 Rn. 1 und Rn. 2.

[5] Vgl. Schmidt!Schoreit (Fn. 4), § 141  Rn. 3 mit Hinweis u.a.  auf BVertGE 32, 199, 216.

[6] Vgl.  Schu/theis,  in:  Karlsruher  Kommentar  (Fn. 1 ),  § 27  Rn. 40  i. V. m. Rn. 28.

[7] Höfling, in: Sachs (Hrsg.), Komm. z. GG, 6. Aufl., 2011, Art. 1 Rn. 15 m. w. N.

[8] Kunig,  in:  v. Münch/Kunig (Hrsg.),  Komm. z.  GG,  Bd. 1,  6. Aufl., 2012, Art. 2 Rn. 30.

[9] Kunig (Fn. 8), Art. 2 Rn. 31.

[10] Vgl. dazu eingehend Tiedemann, Der Anspruch des Beamten auf Schutz seiner Ehre durch den Dienstherrn, 2004, S. 64 ff. (72).

[11] Vossebürger,  in: Feuerich/Weyland, Komm.  z. BRAO, 8. Aufl.. 2012, § 1 Rn. 4; vgl. dazu auch ausführlich Wolf, in: Gaier/Wolf/Göcken, Anwaltliches Berufsrecht, 1. Aufl., 2010, § 1 Rn. 29 ff.

[12] Vgl. Kissel/Mayer, Komm. z. GVG (Fn. 4), § 176 Rn. 18. Die Autoren wei- sen an anderer Stelle (Fn. 13) auch darauf hin, dass Persönlichkeitsrecht und Menschenwürde bei Maßnahmen nach § 176 nicht verletzt werden dürfen.

[13] So zutreffend Tiedemann (Fn. 10), S. 294 f.

[14] Gurlit, in: v. Münch/Kunig (Hrsg.) (Fn. 8), Art. 34 Rn. 24.

[15] Koch, in: Henssler/Prütting (Hrsg.), Komm. z. BRAO, 3. Aufl., 2010, § 1 Rn. 46.  [16] Vgl. Schmidt-Räntsch, Komm. z. DRiG, 6. Aufl., 2009, § 26 Rn. 6